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AutorenbildAnja Harz

Intensiv

Wer den Fußball mag, dem entging die Nachricht um den tragischen Autounfall von Boris Vukcevic sicher nicht. Er liege im künstlichen Koma und sein Zustand sei stabil... Was nicht mehr oder weniger bedeutet, dass gerade jetzt zwar gelebt wird, die Aussicht auf ein mögliches Überleben jedoch völlig unklar ist. Das sind momentane Zeitaufnahmen auf der Intensivstation. Eine Station des technischen Meisterwerkes, mit dem stillsten und einsamsten Vorflur, während innerhalb präzise und sekundenschnell um das Wunder Leben gekämpft wird. Es ist ein Ort der Entscheidung: Leben oder Tod. Aber auch eine Station der Wahrheit und Direktheit. Denn hier stellt sich aufgrund von Zeit und Priorität nicht die Frage von Eventualitäten, Emotionen und Befindlichkeiten von Angehörigen.

Kaum die schlechte Nachricht aufgenommen, befindet man sich unter voller Anspannung wartend in der Schleuse des Eingangsbereiches, während keine zwanzig Zentimeter vom eigenen Körper entfernt ein weiterer komatöser Patient mit Luftröhrenschnitt und Spülgerät hereingefahren und für eine endlos scheinende Minute abgestellt wird. Auf der anderen Seite des Bettes erklärt ein Arzt gerade einer Familie schonungslos, man möge die sechzehnjährige Tochter so in Erinnerung behalten, wie man sie zuletzt gesehen habe. Sie sei nicht wiederzuerkennen. Aussichten auf Leben: keine. Die Haupttür geht auf. Ein junger Vater kommt mit einem kleinen bunten Plüschhasen herein und sagt mit einem verzweifelten Lächeln zur Schwester, die mit dem Komapatienten in den OP-Bereich weiterfahren will: "Haben wir im Auto vergessen..." und verschwindet hinter der Schleuse in einem der Zimmer, in denen die Türen offen bleiben und man in regelmäßigen Abständen auf die vielen Signale der an den Patienten angeschlossenen Geräte reagiert. Der eigene Name wird gerufen. Das Herz rast. Die Hose bis zur Halskrause vollgeschissen sagt der Verstand nur eines: lauf weg! Das sind die Momente, in denen die Seele den Körper verlässt und die Psyche für einige Jahre geschädigt wird. Wie in Trance vernimmt man von da an alles Weitere. Man muss und man tut es: tragen und ertragen. Entscheidungen, Vormundschaften, Warten, zerschossene Venen, Herzstillstände, auch über sechs Minuten, Frage nach Hirnschädigung und starker Behinderung, die noch einige Wochen ans untere Ende der Liste gesetzt werden muss, Blutvergiftung, Infektionen, Lungenausfall... Und hilflos klammert man sich an den Begriff stabil wie an einen bindfadendünnen Strohhalm und lernt, dass jede weitere Minute, jede Stunde, jeder Tag, jede Woche ein Geschenk sind. Man begreift, dass Leben in einem Moment stattfindet. Es gibt kein gestern, kein morgen. Es gibt nur: Jetzt.

Und wie in ganz vielen anderen Situationen des Lebens ist es ein Trugschluss, dass man in anderen Augen tapfer sei. Denn es gibt keinen Mut, nur Angst. Es ist auch nicht die eigene Stärke, die dich trotzdem in Richtung Hölle gehen lässt. Es ist die Liebe, die man für einen Menschen empfindet. Und das Wissen, dass man gerade in diesem Augenblick daran ist, zu geben.

Das sind die Gründe, lieber F., warum ich wenig über Negatives und oft über diese innige Verbundenheit schreibe. Weil ich weiß, das letztlich niemand von Verlust durch Trennung oder Trauer verschont bleibt. Jeder ist in Momenten der Angst, Zweifel, Unsicherheit immer allein, muss es allein durchleben. So viele Lebensumstände und Entscheidungen, wo einfach kein Bauchgefühl richtig oder falsch ist. Aber es gibt kaum jemanden, der nicht in der Lage ist, Dinge anzugehen, zu überstehen oder neu zu beginnen. Nur die Angst vor unserer eigenen Courage, die Trägheit und die Gedanken um die Meinungen anderer lähmen uns und nehmen uns Zeit. Jeder hat davon unterschiedlich viel, aber niemand hat Zeit zum Verschwenden...

In diesem Sinne wünsche ich allen, die es gerade benötigen, von ganzem Herzen Gesundheit, Kraft und ...Liebe!


Ein Weiser wurde befragt, welches

die wichtigste Stunde sei, die der Mensch erlebt,

welches der bedeutendste Mensch,

der ihm begegnet, und

welches das notwendigste Werk sei.


Die Antwort lautete:

Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart,

der bedeutendste Mensch immer der

der dir gerade gegenübersteht,

und das notwendigste Werk ist immer die Liebe.


Meister Eckhart (um 1260-1327)


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